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Zitiert aus: Chrismon Februar 2011
Der Erfolg hat viele Väter. Also Vorsicht, wenn für ein historisches Ergebnis Vaterschaften reklamiert werden! Die modernen Menschenrechte gingen unmittelbar zurück auf das christliche Menschenbild, sagen viele Kirchenmänner. Aber wofür nicht alles wird das christliche Menschenbild vaterschaftlich in Anspruch genommen! So soll die Gleichberechtigung von Männern und Frauen diesem Menschenbild entsprechen und neuerdings auch das Zusammenleben gleichgeschlechtlicher Partnerschaften in Pfarrhäusern. Nicht dass ich diese Errungenschaften verwerfen wollte. Ich frage mich nur, weshalb wir Christenmenschen fast 2000 Jahre, teilweise noch länger dazu gebraucht haben, dies alles zu erkennen, während wir zuvor immer ganz anders dachten.
Wenn nun im Vorfeld des heraufziehenden 500-jährigen Reformationsjubiläums und in der Lutherdekade (bis 2017) der Frage nachgegangen werden soll, ob nicht Martin Luther der eigentliche Vater unserer aller heutigen Freiheit ist, bleibt ein gediegenes Maß an Vorsicht angeraten. Denn wenn Martin Luther von Freiheit sprach, so dachte er an ein Problem, das uns Heutigen, auch uns heutigen Christenmenschen, nicht mehr wirklich auf den Nägeln brennt – wohingegen das, was wir heute für unsere Freiheit halten, Martin Luther überhaupt noch nicht vor Augen stand. Im Übrigen sollten wir der Ahnenreihe gedenken, die nach 1945 grobschlächtig aufgestellt wurde: Martin Luther – Friedrich der Große – Otto von Bismarck – Adolf Hitler. Damals war es durchaus noch en vogue, Martin Luther als Patron christlicher Unterwürfigkeit gegenüber dem Obrigkeitsstaat darzustellen. Selbst Karl Barth polemisierte gegen die Obrigkeitsfrömmigkeit des Luthertums. Nun also Martin Luther als Vorvater unserer modernen Freiheit – kann das denn wahr sein?
Schauen wir also erst einmal etwas näher auf das, was Martin Luther meinte, wenn er von Freiheit sprach – zunächst in ganz traditioneller Sprechweise: Für ihn bedeutete Freiheit zum einen Freiheit vom Gesetz der Sünde und zum anderen von der Sünde des (falsch verstandenen) Gesetzes. Überdies bedeutete ihm Freiheit die Befreiung von der Furcht, Gott aus eigener religiöser Leistung gerecht werden zu müssen, es aber niemals vollbringen zu können. Dieses Befreiungserlebnis in der Einsicht, derzufolge der Mensch gerecht vor Gott wird nicht durch seine Werke, sondern allein im Glauben, begrüßte Luther mit den Worten: „Da fühlte ich mich wie ganz und gar neugeboren, und durch offene Tore trat ich in das Paradies selbst ein.“
Vielmehr müssen wir selber uns kritisch fragen, ob wir uns in unserem modernen, weithin auch schon trivialisierten Freiheitsverständnis noch von dem erschrecken und erwecken lassen, was Freiheit für Martin Luther bedeutete – Freiheit des Geistes nämlich im Kontrast zur Freiheit des Fleisches. Müssen wir nicht vielmehr zugeben, dass die theologische Intensität und die radikale Frömmigkeit Luthers unserem verbürgerlichten Christentum und Protestantismus weithin abhandengekommen sind? Schon Dietrich Bonhoeffer hatte in seiner „Nachfolge“ davor gewarnt, die reformatorische Gnadenzusage („allein aus Glauben“) zur „billigen Gnade“ verkommen zu lassen. Hätte Bonhoeffer beim Blick auf unsere heutige protestantische Realität nicht noch viel mehr Grund zu dieser Warnung? Wer so fundamental zu fragen und zu denken wagte wie Martin Luther oder Dietrich Bonhoeffer, dem würde heute schnell der Fundamentalistenkittel übergeworfen.
Das politische Freiheitsverständnis aber, das wir heute jedenfalls politisch zu Recht verteidigen, hat seine Wurzeln eher bei Machiavelli, Hobbes, Locke, bei der Aufklärung, bei der Konsequenz der fortschreitenden Naturwissenschaften, bei der französischen Revolution (trotz ihrer terroristischen Entartung) und bei dem politischen Erwachen des bürgerlichen Eigeninteresses als bei Martin Luther oder gar beim etablierten und orthodoxen Luthertum bis weit in die Weimarer Republik hinein.
In einem Punkt widersprechen sich sogar Luthers Freiheitsverständnis und unser modernes Freiheitsverständnis nahezu diametral. Politisch müssen wir die Freiheit als Ausdruck individueller und personaler Autonomie verstehen, sofern sich diese Autonomie gegen staatliche Herrschaftsansprüche wendet. Theologisch müssen wir Luthers Interpretation der Freiheit als Kritik jener personal-autarken Autonomie verstehen, sofern diese Autonomie jenes „Bewusstsein schlechthinniger Abhängigkeit“ (so der evangelische Theologe Friedrich Schleiermacher) zu vergessen oder gar abzuschütteln versucht, das Luther als die Knechtschaft des neuen Menschen in der Gerechtigkeit Gottes beschreibt.
Wo wir heute sagen, dass die Freiheit des einen ihre Grenze allein an der Freiheit des anderen findet, würde Luther anders reden – und darin liegt die durchaus auch für uns Protestanten mögliche und verpflichtende Dimension eines evangelischen Freiheitsverständnisses: Unsere Freiheit findet nicht etwa ihre Grenze an der Freiheit, sondern erst ihren Sinn in der Freiheit des anderen. Diese Dimension der geschwisterlichen Fürsorge meinte der Reformator, als er gegen die „lieblose Freiheit“ wetterte und seinen Wittenberger Schwärmern mit seinen Invokavitpredigten ins Gewissen redete: „‚Frei sein‘ aber ist das, welches mir freisteht: ich mag es gebrauchen oder lassen, doch so, dass meine Brüder und nicht ich den Nutzen davon haben.“ Freiheit muss sich wieder lohnen, in der Tat. Aber erst einmal für die anderen.
ROBERT LEICHT
Rober Leicht ist Publizist und war von 1992 bis 1997 war er Chefredakteur der ZEIT. In den Jahren 1997 bis 2003 war Leicht Ratsmitglied der EKD und von 2003 bis 2009 Mitglied der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland. Von 1999 bis 2009 war er Präsident der Evangelischen Akademie zu Berlin und lehrt als Honorarprofessor für öffentliche Kommunikation und aktuelle Politik an der Universität Erfurt.
Die Judaistin Miriam Goldmann ist Kuratorin der Ausstellung “Cherchez la femme”, die noch bis zum 2. Juli im Jüdischen Museum in Berlin zu sehen ist. © Jule Roehr/Jüdisches Museum Berlin
AUS DER ZEIT NR. 18/2017 (Christ und Welt) v. 28. April 2017, 7:52 Uhr
Religiöse Verhüllung: “Gott hält sich bedeckt”
Die religiöse Verhüllung der Frau ist Judentum, Islam und Christentum gemein. Das Jüdische Museum in Berlin widmet ihr jetzt eine Ausstellung. Ein Gespräch mit der Kuratorin Miriam Goldmann über kulturelle Missverständnisse, Zwangsentschleierung und Lässigkeit
Von Hannes Leitlein
Frage: Frau Goldmann, wie kann ein Stück Stoff so sehr die Gemüter erhitzen?
Miriam Goldmann: Es geht ja nicht um irgendein Stück Stoff. Der Gebrauch macht den Unterschied. Das Kopftuch bietet unheimlich viel Fläche zur Projektion. Auch die vielen kulturellen Missverständnisse spielen eine Rolle. In Deutschland ist in Vergessenheit geraten, dass noch unsere Großmütter ganz selbstverständlich Kopftuch getragen haben. Das hatte praktische Gründe, keine religiösen. Viele Musliminnen handhaben das heute zum Teil genauso.
Frage: Das Kopftuch ist auch für Musliminnen ein praktisches und kein religiöses Accessoire?
Goldmann: Ja. Oft drücken Frauen damit weniger eine religiöse als eine kulturelle Zugehörigkeit aus, wenn sie etwa aus Regionen kommen, in denen es noch viel länger üblich war oder noch immer üblich ist. Das Kopftuch ist nicht immer ein dezidiertes Bekenntnis zum Glauben und auch nicht immer politisch. Auch kann es natürlich sein, dass gerade jüngere Musliminnen das Kopftuch einen Tag politisch verstehen und an einem anderen Tag tragen, weil sie es einfach schön finden. Von einer sogenannten türkischen Bindung lässt sich zudem nicht darauf schließen, dass die Trägerin tatsächlich Türkin ist. Die jungen Frauen spielen damit. Man muss also ins Gespräch kommen.
Frage: Auch in vielen muslimisch geprägten Regionen war das Kopftuch lange verschwunden und ist dann wiedergekommen. Halten Sie es für möglich, dass es auch in Deutschland wieder weitere Verbreitung findet?
Goldmann: Ich hoffe nicht unter vergleichbaren Vorzeichen wie etwa im Iran. Wir gehen davon aus, dass Frauen selbst entscheiden, was sie tragen. Diesen Fortschritt wollen wir nicht mehr missen. Und wir billigen auch allen anderen zu, ihre Kleidung selbst zu wählen. Es ist kaum vorstellbar, dass sich dieses Rad zurückdreht.
Frage: Na ja, es sind nicht gerade wenige, die das Kopftuch gerne verbieten würden.
Goldmann: Das liegt wieder an einem kulturellen Missverständnis, denke ich. Junge Frauen, die ein Kopftuch tragen, stoßen ja nicht selten auch in ihrer Familie auf Ablehnung. Die Verhüllung des Haars ist eine Provokation in alle Richtungen. Es wird deshalb oft mit dem Punk verglichen. Eine begrüßenswerte Haltung, wie ich finde. Dafür ist die Jugend da: Sie darf provozieren.
Frage: Die meisten, die sich religiös kleiden, wollen überhaupt nicht provozieren oder müssen sogar Gewalt fürchten. Manch jüdischer Mann trägt einen Hut über der Kippa, um nicht als Jude erkannt zu werden.
Goldmann: Der Grund für diese Angst heißt Antisemitismus. Juden und Muslime verbindet, dass sie ihren Glauben nach außen tragen, der durch Rituale und äußere Kennzeichen erkennbar ist. Dazu gehört die Kopfbedeckung. Das unterscheidet sie deutlich vom Christentum, das sich sehr viel mehr durch Innerlichkeit auszeichnet. Die jüdische Kopfbedeckung für Frauen provoziert niemanden, weil sie für die allermeisten unsichtbar ist oder höchstens etwas verschroben wirkt.
Frage: Sie meinen den sogenannten Scheitel, eine Perücke, die als Kopfbedeckung getragen wird?
Goldmann: Ja, darüber regt sich niemand auf.
Frage: Der Scheitel ist mir 2010 in Israel zum ersten Mal begegnet. Damals, noch mit wenig Verständnis für das Judentum, dachte ich: Ist das nicht eine Art, sich durch die Gesetze zu schummeln?
Goldmann: Es geht im Judentum darum, die Regeln zu befolgen. Das ist mit einer Perücke gewährleistet. Manch jüdische Gruppe lehnt die Perücke als Kopfbedeckung ab, weil niemand in die Verlegenheit kommen soll zu denken, eine Frau befolge die Regeln nicht. Dem begegnen orthodoxe Frauen damit, dass sie auf die Perücke noch etwas aufsetzen, sei es ein Fascinator oder ein Haarband.
Frage: Also aus Respekt vor den anderen?
Goldmann: Sie wollen ihren guten Ruf nicht riskieren. Es geht ja um soziale Gruppen, in denen immer auch eine gewisse soziale Kontrolle herrscht. Hält sich eine Frau nicht an die Regeln, hat das Auswirkungen für die ganze Familie. Daraus auszubrechen ist nicht so leicht. Aber es gibt Spielraum. Die Verhüllung ist in Judentum und Islam kein religiöses Gesetz. In der hebräischen Bibel gibt es kein Gebot, den Kopf zu bedecken, lediglich Stellen, aus denen sich ein solches Gebot ableiten lässt. Im Koran ist das ähnlich. Die Kopfbedeckung ist ein Brauch, der sich über Jahrhunderte konsolidiert hat, der natürlich von männlichen Gelehrten ausgelegt und betont und für immer wichtiger erklärt wurde. Wer sich aber davon abgrenzen will, hat die Schriften auf seiner Seite.
Frage: Das klingt ja doch so, als ginge es um eine patriarchale Auslegungstradition, der sich Frauen unterwerfen, wenn sie Kopftuch tragen?
Goldmann: Vielen Frauen ist nicht klar, dass sie sich mit Fug und Recht davon distanzieren könnten. Sie machen, was schon immer gemacht wurde. Manche, weil sie nie etwas anderes kennengelernt haben – orthodoxe Gruppen leben ja sehr abgeschieden. Aber es gibt doch immer mehr Frauen, die ihren Spielraum entdecken und auch nutzen. Es ist ja, das wissen wir alle, keine leichte Sache, sich zu trennen von Dingen, die schon immer zu einem gehört haben.
Frage: Muss man muslimische Frauen vom Kopftuch befreien?
Goldmann: Sosehr ich die Zwangsverschleierung ablehne, so wenig kann eine Zwangsentschleierung die Lösung sein. Ich sehe mit Sorge, dass religiöse Symbole etwa aus der Schule verschwinden. Wie sollen Kinder Toleranz lernen, wenn sie dem anderen, dem Fremden, nicht mehr begegnen? Und ist die Schule nicht gerade ein guter Ort dafür?
Frage: Sie würden das Kopftuch bei Lehrerinnen befürworten?
Goldmann: Ich finde es schon wichtig, dass Lehrer ihre Schüler nicht zu politischen oder religiösen Dingen beeinflussen. Gleichzeitig müssen Schüler auch das richtige Leben kennenlernen. Dazu gehören unterschiedliche politische Meinungen und religiöse Vorstellungen. Die Schulen werden immer homogener, die Stadtviertel trennen sich, die Schülerschaft trennt sich. Wenn alle sich immer ähnlicher werden, wo findet dann noch die Begegnung mit dem anderen statt? Toleranz muss man lernen, einüben, aber das geht nur mit jemandem, der anders tickt. Schülerinnen sollen auf jeden Fall das Kopftuch tragen dürfen. Bei Lehrerinnen wird es komplizierter, persönlich bin ich eher dafür als dagegen.
Frage: Anderen begegnen – für viele ist bei Burka und Nikab eine Grenze erreicht, weil gerade das damit nicht möglich ist.
Goldmann: In unserer Ausstellung zeigen wir Burka, Nikab und Tschador der Vollständigkeit halber. Wir sind hier so aufgewachsen, dass wir das Gesicht und die ganze Mimik ins Gespräch einbeziehen. Ich erinnere mich mit Schrecken an meine Jugend in Süddeutschland, an die starren Masken bei der badisch-alemannischen Fastnacht, wo man nur die kleinen Augen sieht – das hat mir panische Angst gemacht. In unserem Kulturkreis sind wir gewohnt, mit dem ganzen Gesicht zu kommunizieren. Mit Burka, Nikab oder Tschador ist das nicht möglich. Man kann das auch nicht mit einem Telefongespräch vergleichen, wo man ja total aufs Hören konzentriert ist. Mir geht das zu weit. Ich sehe aber auch nicht, dass wir dafür ein Gesetz brauchen. Dafür ist eine kritische Masse in der deutschen Öffentlichkeit nun wirklich nicht erreicht.
Frage: Die Rechtstraditionen im Islam, die das Kopftuch vorschreiben, gelten eigentlich als unwichtig. Warum sind sie dennoch so präsent?
Goldmann: Sie sind am auffälligsten, weil sie etwa in Saudi-Arabien, im Iran, wo der Islam Staatsreligion ist, vorherrschen. Aber auch dort gibt es ermutigende Beispiele, Frauen, die sich etwa in sozialen Medien ohne Kopftuch zeigen oder in Scharen das Land verlassen.
Frage: In Deutschland kennen wir das “öffentliche Ärgernis”. Ein solches scheint das Kopftuch für viele ja offenbar zu sein – könnte ein Kleidungsstück auch unter diese Regel fallen?
Goldmann: Ich fühle mich nicht berufen, zum Islam irgendwelche Statements abzugeben. Die Welt ginge aber sicher nicht unter, wenn eine Lehrerin – auch abseits des Religionsunterrichts – Kopftuch trägt. Viel entscheidender ist doch, welche Weltsicht im Religionsunterricht vermittelt wird. Das lässt sich nicht an einem Kleidungsstück ablesen.
Frage: Warum geht es immer um Frauen?
Goldmann: In unserer Ausstellung haben wir uns entschieden, nur Frauen zu Wort kommen zu lassen, aus genau diesem Grund: Weil zu viele Männer zu diesem Thema sprechen. Allerdings waren Stellungnahmen von muslimischen Frauen, die sich öffentlich gegen das Kopftuch aussprechen, schwer zu bekommen. Das hat uns erschreckt.
Frage: Dabei gibt es doch einige prominente Musliminnen und Muslime, die sich gegen das Kopftuch aussprechen?
Goldmann: Es gibt unter diesen Prominenten einige, die damit leider nicht von uns zitiert werden wollten.
Frage: Und Ihre Vermutung ist, dass diese Frauen in der muslimischen Community Repressalien fürchten?
Goldmann: Ja, das wurde uns von diesen Frauen auch so bestätigt.
Frage: Über einen Satz in Ihrer Ausstellung bin ich gestolpert: “Mit Ganzkörperbadeanzügen steht dem Badespaß nichts mehr im Wege” – wäre da nicht die Gesellschaft, die diese Badeanzüge ablehnt?
Goldmann: Wo sagt denn heute noch jemand etwas gegen Ganzkörperbadeanzüge?
Frage: Sie zeigen zehn Meter weiter das berühmte Bild der Frau in Nizza, die von zwei Polizisten dazu gezwungen wurde, ihre Verschleierung abzulegen.
Goldmann: Dass diese Szene wirklich so stattgefunden hat, wie sie um die Welt ging, ist fraglich. Deshalb zeigen wir dort nur eine Karikatur. Die Diskussion ist absolut albern. Mir ist jedenfalls lieber, ein Mädchen kommt im Burkini zum Schwimmunterricht, als gar nicht. Man erweitert ihr Spektrum der Möglichkeiten. Wie sollen sich Frauen der Inbesitznahme ihrer Familien entziehen? Nur so kann sich der freie Lebensstil, den wir schätzen, verbreiten: Man muss den Frauen, und gerade auch den jungen Mädchen, die Teilhabe ermöglichen.
Frage: Und wenn sich die Öffentlichkeit weigert?
Goldmann: Das Kopftuch kann kein Problem sein. Bei Nikab und Burka ist die Sache klar: Damit ist keine Teilhabe möglich.
Frage: Wie steht eigentlich Gott zur Verschleierung?
Goldmann: Er hält sich, um im Bild zu bleiben, ziemlich bedeckt. In der Thora gibt es eine Stelle: Rebekka bedeckt ihr Gesicht, als sie ihrem zukünftigen Mann begegnet. Ihrem Knecht gegenüber, der einem anderen Stand angehört, aber musste sie sich nicht verschleiern. Das entspricht den mittelassyrischen Gesetzen, die vorgeben, dass Frauen sich vor Fremden bedecken müssen. Bei den jüdischen Männern ist es eine Geste des Respekts. Sie drücken damit aus, dass es noch einen über ihnen gibt. Man muss sich klarmachen, dass in der Zeit, in der die Gebote entstanden sind, Textilien sehr teuer waren. Vorschriften, an die sich viele nicht hätten halten können, ergeben keinen Sinn. Das heißt, sie werden nicht meterweise Stoff um sich herumgewickelt haben.
Frage: Müsste die Gesellschaft also einfach ein bisschen lockerer werden?
Goldmann: Eine gewisse Lässigkeit mit kulturellen Unterschieden würde nicht schaden. Zur Globalisierung gehört nicht nur, dass man an exotische Orte reist oder Waren aus jedem Winkel der Welt konsumieren kann, sie bedeutet auch, dass Menschen mit ihren Gepflogenheiten und Bräuchen hier hinkommen und wir damit leben müssen.
Übersetzung:
Bibel-Fälscher? Bibel-Retter!
Siebzig deutsche Übersetzer korrigieren 67.830 Wörter und landen einen Verkaufshit.
Ihr Erfolgsrezept: Zurück zu Luther.
Von Evelyn Finger
AUS DER ZEIT NR. 10/2017 16. März 2017
Wer Neues will, muss sich zu wehren wissen. Der Reformator hat das früh erkannt und sich mit groben Worten gegen die feinen Verteidiger des Althergebrachten zur Wehr gesetzt. Denn Martin Luther wollte die lateinische Bibel nicht einfach durch eine deutsche ersetzen, sondern, und das war das wirklich Neue: sie “auf gut Deutsch”, in einer eigenen, unverwechselbaren, anrührenden und klaren Sprache noch einmal erschaffen.
“Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über.” So lautete einer seiner frei übersetzten Bibelverse, den die Lateiner der damaligen Zeit ganz falsch fanden, und damit hatten sie auf ihre Weise auch recht. Wörtlich übersetzt hätte die Stelle aus dem Neuen Testament heißen müssen: “Aus dem Überfluss des Herzens redet der Mund.” Doch Luther fand, so rede kein Mensch. Einen “Überfluss des Herzens”, hielt er seinen Kritikern entgegen, gebe es im Deutschen ebenso wenig wie einen “Überfluss des Kachelofens”. Das sei kein Deutsch! Er aber befleißige sich, “gut deutsch” zu reden, was ihm zwar nicht immer gelinge, doch: “Die lateinischen Buchstaben hindern über die Maßen, sehr gutes Deutsch zu reden.”
Gut deutsch zu reden, das gelang ihm 1522 mit seiner Version des Neuen Testaments besser als allen Übersetzern zuvor und vielleicht sogar allen danach. Er überwand den schwerfälligen Stil der Vulgata, der damals gängigen lateinischen Gebrauchsbibel, durch eine Sprache, die zugleich lebensnah und literarisch, bodenständig und himmelhoch war. Seine Methode: sich genauestens in die griechischen und hebräischen Urtexte zu vertiefen; sich dann frei zu machen vom buchstäblichen Wortlaut, um den tieferen Sinn zu erfassen; und schließlich den Mut zu haben, das ewige Wort des Evangeliums in eigene Worten zu kleiden. Selbst Friedrich Nietzsche, der vom Glauben abgefallene Pfarrerssohn, schwärmte 300 Jahre später noch von Luthers Genie.
Deshalb ist auch heute das Interesse der Deutschen groß, wenn eine Lutherbibel 2017 erscheint. Die letzte, von der evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) abgesegnete Ausgabe stammte von 1984. Zum Reformationsjubiläum erschien im vergangenen Oktober eine Revision dieser Revision, deren erste Auflage von 260.000 Exemplaren schon im November vergriffen war. Jetzt sind weitere 260.000 gedruckt. Dem schlechten Ruf Deutschlands als entchristlichte, von Kirchenaustritten gebeutelte Gegend zum Trotz hängt die Nation offenbar doch am kanonischen Text. Sei es, weil sie die Lutherbibel als Kulturklassiker sieht. Sei es, weil man die neueste Lutherbibel nun einmal haben muss.
“Sie halten ein Stück Menschheitsgeschichte in der Hand”, schreibt der Ratsvorsitzende der EKD im Vorwort und zählt die Geschichten, Liebesgedichte, Gebete, Predigten auf, aus denen das Buch der Bücher besteht. “Die Bibel ist eine ganze Bibliothek.” So ist es seit Anbeginn – aber diese Lutherbibel enthalte wieder mehr Luther, die Zeiten des forschen Verständlichmachens sind also vorbei.
In den siebziger Jahren hatten die Revisoren noch grandiose Verschlimmbesserungen vorgenommen, so tilgten sie den Phraseologismus “sein Licht unter den Scheffel” stellen und ersetzten ihn durch “sein Licht unter den Eimer” stellen. Die Begründung: Heute wisse niemand mehr, was ein Scheffel sei. Das Problem: Es merkte trotzdem jeder, dass die Korrektur peinlich war. Der Schriftsteller Walter Jens rief: “Mord an Luther!” Die Gemeinden protestierten. Und bald wurde die ganze Ausgabe von 1975 nur noch als “Eimer-Testament” verspottet.
Neu ist eben nicht gleich neu. Und nur neu kann auch banal sein, so wie jene Weihnachtsgeschichte, in der es nicht mehr hieß “dass alle Welt geschätzet würde”, sondern “alle Welt sollte sich für die Steuer eintragen lassen”. Mit solchem Modernisierungsfuror macht die EKD nun Schluss. Nach den Bibelfälschern kommen die Bibelretter und besinnen sich auf das Sprachgenie Luther, dem die Deutschen einige ihrer schönsten Wortschöpfungen verdanken: Feuereifer, Lockvogel und Lästermaul; im Dunkeln tappen, ein Machtwort sprechen, etwas ausposaunen und friedfertig sein.
Was sich heute so eingängig liest, so als könnte es gar nicht anders sein, war das Ergebnis harter Arbeit. Man darf sich nicht davon täuschen lassen, dass Luther in seinem erzwungenen Exil auf der Wartburg in nur elf Wochen das gesamte Neue Testament übertrug. Am Alten Testament arbeitete er mehrere Jahre, zusammen mit Melanchthon und einem ganzen Redaktionsteam. Luther berichtet, sie hätten oft wochenlang ein einziges Wort gesucht und manchmal nicht gefunden. Wenn nun aber der Bibelleser mit den Augen durch die fertigen Seiten gehe, merke er gar nicht, “welche Steine und Klötze” da vorher lagen. “Wir haben schwitzen und uns sorgen müssen, bis wir die Steine beseitigt haben.”
So muss es auch jetzt, ein halbes Jahrtausend danach, gewesen sein. Siebzig Revisoren prüften sieben Jahre lang den Luthertext, verglichen ihn mit den Ursprungstexten und den anderen wichtigen Bibelübersetzungen der Gegenwart. Sie wandelten 15 785 Verse ab, korrigierten 67 830 Wörter. Der sogenannte Lenkungsausschuss unter dem Vorsitz des Thüringer Altbischofs Christoph Kähler wollte aber kein neues Denkmal errichten. Nur in einem Drittel der Änderungen kehrten die Revisoren zum Lutherwort zurück, in den anderen Fällen ging es um Übersetzungsgenauigkeit, heutige Verständlichkeit und schließlich um Annäherung an den Zeitgeist: In der Genesis schafft Gott der Herr jetzt für Adam keine “Gehilfin” mehr, sondern eine “Hilfe”. Außerdem wird die Anrede “Brüder” durch “Brüder und Schwestern” ersetzt.
Dass man darüber streiten kann, will Kähler nicht leugnen. Wenn er von der Arbeit des Verdolmetschens spricht, merkt man ihm an, dass er den gelehrten Streit genossen hat. Man merkt aber auch seine Erleichterung, dass manche wortwörtliche Korrektur sich nicht durchgesetzt hat. So heißt es bei Matthäus im Vaterunser weiterhin: “Und vergib uns unsere Schuld” – nicht “erlass uns unsere Schulde n”. Kähler sagt, ihm sei beim Revidieren erst klar geworden, wie falsch die professorale Verachtung für das nicht wörtliche Übersetzen sei und wie sehr Luthers Sprache ergreife: “Übersetzen ist keine Wissenschaft, sondern Kunst.”
Das war Luthers Leistung: Statt mit Sprachgelehrsamkeit zu protzen, fasste er sich ein Herz und zeigte, dass die Wahrheit der Heiligen Schrift keine ist, die nur von der Kirche ausgelegt werden darf, und keine, die durch die Muttersprache allein schon verständlich wird, sondern eine, die sich auch durch Schönheit mitteilt. Die Sprache der Bibel muss schön sein, weil sie transzendent ist. Sie muss nicht unmissverständlich werden, sondern darf geheimnisvoll bleiben.
Luthers Konkurrenten, die anderen deutschen Bibelübersetzer, wetterten gegen das allzu Schöne. Sie wiesen ihm Fehler nach, korrigierten ihn. Aber immer, schon im 16. Jahrhundert, schauten sie beim Übersetzen auf seinen Text und bedienten sich heimlich daraus. Auch daran erkennt man einen Klassiker.
DIE NEUE BIBELÜBERSETZUNG: LUTHER SPRICHT WIEDER SEINE SPRACHE
Und ich bin hernieder gefahren, dass ich sie errette aus der Ägypter Hand und sie aus diesem Lande hinaufführe in ein gutes und weites Land, in ein Land, darin Milch und Honig fließt. (2. Mose 3, 8)
Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis du wieder zu Erde wirst, davon du genommen bist. Denn Staub bist du und zum Staub kehrst du zurück. (1. Mose 3, 19)
Und du wirst tappen am Mittag, wie ein Blinder tappt im Dunkeln. (5. Mose 28)
Da ließ der Herr Schwefel und Feuer regnen vom Himmel herab auf Sodom und Gomorra und vernichtete die Städte und die ganze Gegend. (1. Mose 19, 24/25)
Tu von dir die Falschheit des Mundes und sei kein Lästermaul. (Sprüche Salomos 4, 24)
Wer zugrunde gehen soll, der wird zuvor stolz; und Hochmut kommt vor dem Fall.Besser niedrig sein mit den Demütigen als Beute austeilen mit den Hoffärtigen. (Sprüche Salomos 16,18)
Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen machen und ihre Spieße zu Sicheln. (Micha 4, 3)
Wer seinem Nächsten die Nahrung nimmt, der tötet ihn. Wer dem Arbeiter seinen Lohn nicht gibt, der ist ein Bluthund. (Sirach, 34, 22)
Ihr sollt das Heilige nicht den Hunden geben, und eure Perlen sollt ihr nicht vor die Säue werfen … (Matthäus 7, 6)
Und wer diese meine Rede hört und tut sie nicht, der gleicht einem törichten Mann, der sein Haus auf Sand baute. (Matthäus 7,26)
Und er sprach zu ihnen: Zündet man denn ein Licht an, um es unter den Scheffeloder unter die Bank zu setzen? (Markus 4, 21)
Die Menge der Gläubigen aber war ein Herz und eine Seele; auch nicht einer sagte von seinen Gütern, dass sie sein wären, sondern es war ihnen alles gemeinsam. (Apostelgeschichte 4, 32)
Und ich sah in der rechten Hand dessen, der auf dem Thron saß, ein Buch,beschrieben innen und außen, versiegelt mit sieben Siegeln. (Offenbarung des Johannes, 5,1)
Bibelübersetzungen gibt es viele. Doch welche sollte man unbedingt kennen?
Von Andreas Öhler, Raoul Löbbert und Hannes Leitlein
AUS DER ZEIT NR. 14/2017 31. März 2017
Die Bibel. Revidierte neue Einheitsübersetzung
Wer hat’s erfunden? Die Lutherbibel 2017 stahl ihr ein bisschen die Schau, als sie sechs Wochen danach, im Dezember 2016, erschien. Zu Unrecht, denn auch sie wagte eine mutige Änderung, die man so nicht erwartet hätte. Sie ist geschlechtergerechter geworden: Paulus richtet seine Rede nun an die Brüder und Schwestern. Eine Spitze gegenüber der evangelischen Rivalin konnten sich die Katholiken nicht verkneifen. Dass die Übersetzung genauer ist, ist ein Seitenhieb auf Luther, der mit den Quellen kreativ umging.
Das ist anders: Diese Bibel ist tatsächlich näher am griechischen Text. Auch zeigt sie Respekt vor der jüdischen Tradition, indem sie das Geheimnis des Gottesnamens im Judentum wahrt und nicht mehr von Jahwe spricht. Fast jede Bibelstelle klingt anders als bei Luther, moderner, schlanker, darin der Zürcher Bibel ähnlich.
Deshalb lohnt die Lektüre: Wer sich mehr für die Botschaft interessiert als für die Worte, in denen sie verkündet wird, sollte diese Bibel verwenden.
Warum diese Bibel schön ist: Sie verkörpert die Anmut des Praktikablen.
Was diese Bibel schwierig macht: Zuweilen versucht sie krampfhaft, nur nicht Luther zu kopieren, weil sie sich für älter hält. Ein wortklauberischer Streit, der die Ökumene nicht gerade fördert. (Andreas Öhler) Katholisches Bibelwerk, 2016
Gerechtigkeitsbibel
Wer hat’s erfunden? Die evangelikale Micha-Initiative ist eine internationale Kampagne, die sich für Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit in der Welt einsetzt, frei nach dem Propheten Micha, wie es auf der Homepage heißt: “Es ist dir gesagt worden, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir erwartet: nichts anderes als dies: Recht tun, Güte und Treue lieben, in Ehrfurcht den Weg gehen mit deinem Gott.” (Micha 6,8)
Das ist anders: Diese Bibel ist bunt. Jeder Vers, der nur vage im Verdacht steht, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit in die Welt zu bringen, ist hervorgehoben in der Signalfarbe Orange. In der Heiligen Schrift, denkt da der linksalternative Kumbaya-my-Lord-Christ, geht es nur am Rande um Gott. Im Zentrum steht der Kampf gegen Ausbeutung, globalisierten Kapitalismus und individualistische Spalter, die sich die Freiheit herausnehmen, selbst die Teile farbig zu markieren, die ihnen wichtig sind.
Deshalb lohnt die Lektüre: Sie ermöglicht eine politisch korrekte Bibellektüre in weniger als drei Stunden.
Warum diese Bibel schön ist: Die Mischung aus Orange im Inneren und Grau auf dem Umschlag ist so klassisch-schick wie ein Hosenanzug von Angela Merkel.
Die schönste Stelle: Sicherlich die dick in Orange unterstrichene Warnung vor Klugscheißern und kapitalistischer Systempresse: “Hütet euch vor den Schriftgelehrten! Sie laufen gern in langen Gewändern herum und genießen es, wenn die Leute sie auf der Straße ehrfurchtsvoll grüßen.” (Lukas 20,46) (Raoul Löbbert) Die Gerechtigkeitsbibel ist im Brunnen- Verlag erschienen.
Wulfila-Bibel
Wer hat’s erfunden? Wulfila (Gotisch für “kleiner Wolf”) war im 4. Jahrhundert Bischof der Goten in Mösien, einem Gebiet südlich der Donau im heutigen Nordbulgarien. Seine Übersetzung der Bibel ins Gotische gilt als ältestes schriftliches Zeugnis einer germanischen Sprache überhaupt.
Das ist anders: Für seine Übersetzung musste Wulfila erst einmal eine gotische Schrift erfinden. Diese besteht aus Runen sowie griechischen und römischen Buchstaben. Viele der Wörter der Wulfila-Bibel sind Neologismen: Wulfila musste sie erst erfinden, weil es für viele Begriffe im griechischen Ausgangstext bis dahin keine gotische Entsprechung gab. Zudem fehlen einige Teile der modernen Bibel in der Wulfila-Übersetzung, die Apostelgeschichte etwa.
Deshalb lohnt sich die Lektüre: Gegen Wulfilas archaische Version des Vaterunsers wirkt jede moderne Fassung des Gebets so fade wie alkoholfreies Bier gegen einen Humpen Met: “atta unsar þu ïn himinam/ weihnai namo þein/ qimai þiudinassus þeins/ wairþai wilja þeins/ swe ïn himina jah ana airþai/ hlaif unsarana þana sinteinan gif uns himma daga/ jah aflet uns þatei skulans sijaima/ swaswe jah weis afletam þaim skulam unsaraim/jah ni briggais uns ïn fraistubnjai/ ak lausei uns af þamma ubilin/ unte þeina ïst þiudangardi/ jah mahts jah wulþus ïn aiwins/ amen.”
Warum diese Bibel schön ist: Die Wulfila-Bibel gibt es in verschiedenen Fassungen. Besonders schön: Der Text des Codex Argenteus steht in Gold und Silber auf purpurfarbenem Pergament.
Was diese Bibel schwierig macht: Natürlich die Sprache. Aber zum Glück bietet jedes gute mediävistische Seminar heutzutage Grundkurse in Gotisch an. Macht sich zudem gut im Lebenslauf. (Raoul Löbbert) Der Codex Argenteus wird in der Universitätsbibliothek Carolina Rediviva in Uppsala, Schweden, aufbewahrt.
Bibel in gerechter Sprache
Wer hat’s erfunden? 1987, beim Kirchentag, gab es erstmals alternative Übersetzungen in “gerechter Sprache”. Die Idee einer Gesamtübersetzung wurde 2001 am Reformationstag vorgestellt, fünf Jahre lang arbeiteten 40 weibliche und zwölf männliche Bibelwissenschaftler aus Deutschland, Österreich und der Schweiz daran. Unterstützt und begleitet wurden sie von einem Beirat aus Theologinnen und Theologen. Rückmeldungen von über 300 Erstlesenden flossen in das Ergebnis ein.
Das ist anders: Die Bibel in gerechter Sprache legt ihre Übersetzungsentscheidungen offen. Sie berücksichtigt die aktuellen Erkenntnisse der feministischen Theologie, des jüdisch-christlichen Dialogs, der Sozialethik und der Befreiungstheologie. Vielleicht wird sie gerade deshalb so kontrovers besprochen.
Deshalb lohnt die Lektüre: Weil sie umstritten ist. Wer Bestätigung sucht, sollte das Bibellesen gar nicht erst anfangen.
Warum diese Bibel schön ist: Gott hat viele Namen, die Übertragung aus dem griechischen oder hebräischen Urtext ist jeweils am Rand abgedruckt, im Text selbst werden vielfältige Umschreibungen verwendet.
Die schönste Stelle: “Glücklich sind die Frau, der Mann, die nicht nach den Machenschaften der Mächtigen gehen, nicht auf dem Weg der Gottlosen stehen noch zwischen Gewissenlosen sitzen, sondern ihre Lust haben an der Weisung Gottes, diese Weisung murmeln Tag und Nacht.”
Was diese Bibel schwierig macht: Man muss sich die Häme der Kritiker/innen gefallen lassen. (Hannes Leitlein) Die Bibel in gerechter Sprache erscheint im Gütersloher Verlagshaus.
Zürcher Bibel
Wer hat’s erfunden? Was dem Luther sein Gutenberg, war dem Zwingli sein Froschauer. Christoph Froschauer druckte 1531 die erste Gesamtausgabe der Zürcher Bibel. Zwingli war an der Übersetzung beteiligt, ihm zur Seite stand, wie Melanchthon seinem Luther, der Theologe Leo Jud. Luthers Übersetzung wurde wohlwollend anerkannt, aber dann doch fromm und frei weiterentwickelt, Luther passte das nicht. Er giftete gegen seinen Konkurrenten “Zwingel” wegen dessen “filtzigem, zottigem” Deutsch.
Das ist anders: Die Zürcher Bibel, vor allem die Neue Zürcher Bibel, gilt als die philologisch genauere Übersetzung, die wohl nur noch von der Basisbibel übertroffen werden wird an Exaktheit. Sie hat viel mehr und viel radikalere Revisionen durchlaufen als die Luthersche, die aus Ehrfurcht für den Konfessionsgründer nur wenig angetastet wurde. Doch immer wieder neu zu justierende Verbindlichkeiten gegenüber den Originalvorlagen verhindern eigentlich ein starres Festhalten am Text. Mit dem Züricher Modell trafen die Schweizer allerdings auch eine folgenschwere Entscheidung: Der Dialekt wurde in die Mündlichkeit verwiesen, das Schriftdeutsch ersetzte die schwyzerdütsche Kanzleisprache.
Deshalb lohnt sich die Lektüre: So wie das Schweizer Parlament aus eidgenössischen Räten besteht, die außerhalb der Republik kein Aas kennt, das Parlament aber oder deswegen prächtig funktioniert, so verhält sich das auch mit der Zürcher Bibel: Schwarmintelligenz geht vor Personenkult.
Warum sie so schön ist: Weil sie so genau ist und auf ihre Entstehung so viel Mühe verwandt wird. Und das bei jeder Revision. Deswegen ist sie auch kirchenamtlich anerkannt. 20 Jahre, von 1987 bis 2007, ließen sich die Übersetzer Zeit für die letzte Revision. Und während die Lutherausgabe von 2017 wieder den Wittenberger Stuck an die Decke pappte, ist die Züricher ohne Stuck. Eher wie ein transparenter Glasbau.
Was diese Bibel schwierig macht: Die Abkehr von Liebgewonnenem. Wir alle haben den berühmten Spruch Rut verinnerlicht, der gerne bei Trauungen verwendet wird: “Wo du bleibst, da bleibe ich auch.” In der Zürcher Bibel heißt es nun: “Und wo du übernachtest, da werde auch ich übernachten.” Zwischen Übernachten und Bleiben liegen nicht nur bei Liebespaaren Welten. (Andreas Öhler) Zürcher Bibel, Theologischer Verlag Zürich, 2007
Bibel für Schwoba
Wer hat’s erfunden? Der Pfarrer Rudolf Paul (Jahrgang 1933) hat ein Vierteljahrhundert an einer schwäbischen Bibelübersetzung gearbeitet, das Neue Testament wurde 2008 fertiggestellt. Wie Luther sein Deutsch über Mitteldeutschland verbreitete, hoffte auch Paul, das Schwäbische mit seiner eigens entwickelten Lautschrift als ernsthaften Dialekt zu rehabilitieren.
Das ist anders: Der Pfarrer im Ruhestand beherzigte, was Luther als Dolmetzsch immer forderte: dem Volk aufs Maul zu schauen. Pauls Mundartpredigten und Gottesdienste stärkten die Kirchenverbundenheit.
Deshalb lohnt die Lektüre: Auch Jesus sprach im galiläischen Dialekt, jenseits des Kirchenlateins der Liturgie wurde der Glaube in Mundart erfahren und weitergegeben. Dort liegt die Kraft des Volksglaubens.
Warum diese Bibel schön ist: Weil sie nicht nur den Glauben über den Dialekt näher zu den Menschen bringen will, sondern auch den Dialekt über den Glauben wieder zu seinem kulturellen Fug und Recht verhilft.
Was diese Bibel schwierig macht: Menschen, die dem schwäbischen Dialekt nicht gewachsen sind, werden so viel verstehen wie Gotisch. Nämlich nichts. (Andreas Öhler) Rudolf Paul: Bibel für Schwoba, Verlag Haus der Volkskunst, 2014
Der Parlamentarische Staatssekretär Thomas Rachel über die Reformation als Emanzipationsbewegung, Luthers Einfluss auf Schulen und Universitäten und über die Sommerschule 2017 für Studierende und Promovierende in Wittenberg. Ein Interview mit bmbf.de
Herr Rachel, was ist für Sie der wichtigste Grund, das Reformationsjubiläum zu feiern?
Thomas Rachel: Das 500-jährige Reformationsjubiläum bietet eine einmalige Gelegenheit, die gesamt-kulturelle Bedeutung der Reformation neu ins Bewusstsein zu rufen. Die Reformation ist keineswegs nur ein kirchliches und theologisches, sondern ein universales Ereignis unserer deutschen und europäischen Geschichte mit weitreichenden und letztlich weltweiten, wirkungsgeschichtlichen Folgen. Die Reformation war auch eine gesamtgesellschaftliche Bildungs-, Freiheits- und Emanzipationsbewegung. Sie ist ein unverlierbarer Teil unseres geistigen Erbes und unserer kulturellen Identität.
Das Vermächtnis Luthers reicht also weit über kirchliche Veränderungen hinaus?
Und ob, man darf sich nicht allein auf die Einzelperson Martin Luther fokussieren. Luther hat zwar gewissermaßen die „Initialzündung“ für die Reformation gegeben, aber unzählige andere Reformatoren haben neben und nach ihm wesentliche und unverzichtbare Beiträge zum Erfolg und zur Ausbreitung der Reformation geleistet. Man denke beispielsweise an Melanchthon, Calvin oder Zwingli. Es sind viele Schultern, die die Reformation ermöglicht, getragen und weiter geführt haben. Das zeigt sich vor allem am reformatorischen Bildungserbe insgesamt, das ja in den letzten 500 Jahren von unzähligen evangelischen Denkern immer wieder neu formuliert und fortgeschrieben worden ist. Die Ahnengalerie reicht von den großen Gestalten des Reformationsjahrhunderts über Namen wie Comenius, Pestalozzi, Kant, Schleiermacher, Hegel und Wichern bis hin zu den Denkern unserer Zeit.
Luther wollte, dass ihn jeder verstand – nicht nur Adel und Klerus. Was schätzen Sie als Bildungspolitiker an seinem Begriff von Bildung?
Mit der vollständigen Übersetzung der Bibel in die deutsche Sprache und dem Kleinen und Großen Katechismus hat Martin Luther zu seiner Zeit einerseits den entscheidenden Grundstein für ein völlig neues Bildungsethos gelegt, nämlich dasjenige des mündigen, urteilsfähigen und seinen Glauben selbst reflektierenden Christenmenschen im Sinne des Priestertums aller Gläubigen. Zum ersten Mal wurden auch die Gottesdienste in deutscher Sprache für jedermann verständlich – und Predigt und Kirchengemeindelieder rückten ins Zentrum. Andererseits ist dieses Bildungsideal keineswegs nur im rein individuellen oder kirchlichen Bereich verblieben, sondern wurde zugleich zum Motor einer neuen gesellschaftlichen und sozialen Bildungsverantwortung: Mit seiner Schrift von 1524, “An die Ratsherrn aller Städte deutschen Landes, dass sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen”, legte er – vor dem Hintergrund geradezu katastrophaler Bildungszustände – die Grundlage für das spätere, öffentliche Schulwesen in Deutschland.
Das heißt, Schul- und Hochschulpolitik sind bis heute von ihm beeinflusst?
Gewiss, allerdings kann man hier schwerlich ganz gerade genealogische Linien von Luther bis zu uns ziehen, und es gibt eine Vielzahl von geschichtlichen Vermittlungsstufen, die es zu berücksichtigen gilt. Insbesondere in der Aufklärungsepoche veränderte sich natürlich auch das reformatorische Denken noch einmal in bedeutsamer Weise. Das ist aber im Übrigen auch die Stärke des reformatorischen Denkens, das ja letztlich davon ausgeht, dass die geschichtlichen Wandlungsprozesse und Veränderungen in jeder Zeit andere und neue Antworten erfordern. Außerdem sollte man hier keine falschen oder gar konfessionalistischen Engführungen betreiben: Denn es ist natürlich das gesamtchristliche Erbe, das Europa bereits seit dem frühen Mittelalter bildungsmäßig tief und nachhaltig geprägt hat. Bereits die katholischen hohen Schulen und Klöster, die Luther polemisch als „Eselsställe und Teufelsschulen“ bezeichnete und bekämpfte, haben genauso ihren berechtigten Anteil daran, wie zum Beispiel die abendländischen Universitätsgründungen, die ohne Kirche und Theologie undenkbar gewesen wären.
Ein Wandel der Universitäten?
Man kann sagen, dass die Universitäten gewiss einen wichtigen Transformationsschub durch die Reformation erfahren haben, und zwar institutionell wie ideell. Die Landesherren wurden – im Zuge der Herausbildung der neuzeitlichen Territorialstaaten – nun selbst zu Gründern und Trägern von Universitäten und auch die neu etablierte Kultur der engen Verzahnung von Pfarramt und akademischer Ausbildung waren wichtige Schritte hin zum modernen staatlichen, säkularen und öffentlichen Bildungsverständnis. Ideell betrachtet ist es vor allem die entschiedene Betonung der Bildungsaufgabe und freien Mündigkeit jedes Einzelnen, das dieses neue reformatorische Bildungsethos auszeichnet.
Sie haben die Bibelübersetzung erwähnt. Welche Rolle spielt dabei die deutsche Sprache?
Es lässt sich gewiss ohne Übertreibung sagen: Die Bibelübersetzung Martin Luthers schuf die entscheidende Grundlage für unsere moderne deutsche Sprache und prägte in außerordentlicher Weise die neuzeitliche deutsche Literatur- und Kulturgeschichte. Kein Goethe, kein Schiller, kein Kant und kein Schleiermacher, aber auch kein Bach und kein Mendelssohn-Bartholdy ohne Luther und die Reformation!
Einen gewaltigen Schub brachte die Reformation vor allem für die Wissenschaft. Was fasziniert Sie dabei am meisten?
Die Freiheit der Forschung vor jeder unsachgemäßen und fachfremden Bevormundung wurzelt für mich genuin im protestantischen Freiheitsverständnis und in dem durch die Rechtfertigungslehre begründeten Menschenbild. Wissen und Bildung sind entscheidend für die Fähigkeit eines jeden Menschen, Mündigkeit zu erlangen, sich für die eigenen Rechte einzusetzen und sich gemeinschaftlich für grundlegende Rechte anderer einsetzen zu können. Es ist also nicht nur ein entscheidendes Instrument zur Teilhabe, sondern auch ein elementares Menschenrecht. Deshalb unterdrücken alle totalitären Ideologien und Glaubenssysteme nicht zuletzt immer auch die Freiheit der Bildung und Forschung. Nach evangelischem Verständnis ist der Mensch aber selbst als bildsames Wesen der zentrale Mittel- und Bezugspunkt. Bildung soll ihm helfen, seine von Gott geschenkten Fähigkeiten zu erkennen, zu entfalten und zum Wohle aller einzubringen. Dieses reformatorische Bildungsverständnis hat im Laufe der Jahrhunderte immer wieder entscheidende Impulse – auch nicht zuletzt für unser heutiges säkulares Verständnis des Rechtes auf umfassende Bildung und Teilhabe – zu geben vermocht.
Von Kaiser und Papst hielt Luther bekanntlich nicht viel, stattdessen sprach er von Gewissensfreiheit und Eigenverantwortlichkeit des Einzelnen. Was bedeutet das für Sie als Politiker?
Ein evangelisches Bildungs- und Forschungsverständnis ist ohne persönliche Wissens- und Gewissensbildung schlechterdings undenkbar. Das prägt mich persönlich als Christ in der Politik in ganz grundlegender Weise. Als Bildungspolitiker weiß ich darüber hinaus aber auch, dass ein im Glauben begründeter, persönlicher Existenzvollzug und ein ganzheitliches und säkulares Verständnis menschlicher Bildung keineswegs Gegensätze darstellen. Das genaue Gegenteil ist nach protestantischer Überzeugung vielmehr der Fall, und beides gehört – bei aller nötigen Differenzierung – immer zusammen. Das Dilemma unserer säkularisierten Moderne und mancher politischer Werte-Diskussionen ist meines Erachtens allerdings durchaus, dass diese tiefen Zusammenhänge bei vielen Menschen – und auch vielen Politikern – heutzutage nicht mehr ganz im Bewusstsein sind. Gerade in der Ethik wird immer wieder vergessen, dass Glaube und Religion entscheidende und unverzichtbare Quellen und Ressourcen der Wertebildung und Wertebindung darstellen. In der EKD-Denkschrift „Maße des Menschlichen“ heißt es sehr treffend: „Die Frage nach Gott ist für zeitgemäße Bildung unabdingbar, da sie vor absolutierendem Denken und Handeln schützt.“ Politisch gesehen gehört daher nach meiner festen Überzeugung der Religionsunterricht an die öffentlichen Schulen und die wissenschaftlichen Theologien an die universitären Fakultäten.
Das Reformationsjubiläum wird mit vielen Veranstaltungen, Kongressen und Projekten gefeiert. Welche ragt für Sie heraus?
Besonders wichtig finde ich die Summer School 2017 in Wittenberg, die vom Evangelischen Studienwerk Villigst und vielen Partnern organisiert wird. Unter dem Motto „Es reicht. Was mich angeht“ wird ein vielfältiges Seminarprogramm für mehr als 500 Studierende und Promovierende angeboten. An dem Programm arbeiten alle 13 Begabtenförderungswerke gemeinsam aktiv mit. So etwas hat es in dieser Form bisher noch nicht gegeben. Außerdem sind weitere Institutionen – DAAD, Hochschulen, Arbeiterkind.de – beteiligt. Die vierwöchige Summer School steht für ein interdisziplinäres, werke- und länderübergreifendes Zusammenarbeiten. Gesellschaftliche Zukunftsfragen sollen gemeinsam von den zukünftigen Verantwortungsträgern aus unterschiedlichen Blickwinkeln diskutiert werden. Das Seminarprogramm wird von einem Rahmenprogramm begleitet, das den Dialog zwischen den Teilnehmern stärken soll und Gelegenheit zum wissenschaftlichen Austausch und internationaler Vernetzung bietet. Auch das Bundesforschungsministerium gehört zu den Förderern der Summer School 2017.
Quelle: Bundesministerium für Forschung und Bildung
Interview über interreligiöse Begegnungen
Bischof Hein im Interview: “Wir beten zu demselben Gott”
Bischof Prof.Dr. Martin Hein (Foto © .medio.tv)
23.11.16_Kassel/Hofgeismar. Bischof Martin Hein hat vor der Synode der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck (EKK) die Gemeinsamkeiten zwischen Christen, Juden und Muslimen betont. Darüber sprachen wir mit dem Bischof.
Sie haben zu mehr Begegnungen zwischen den drei großen Religionen aufgerufen. Sind die Vorzeichen dafür nicht denkbar schlecht in einer Zeit, in der islamistischer Terror für Angst und Schrecken sorgt?
Prof. Dr. Martin Hein: Wenn wir uns vom Terror lähmen lassen, dann haben die Terroristen ihr Ziel erreicht. Sicher macht es die angespannte Situation voller Gewalt es nicht leichter, dass sich die drei monotheistischen Religionen aufeinander zubewegen. Aber gerade deshalb ist es wichtig, dass die besonnenen Kräfte des Islam, aber auch des Judentums und des Christentums einen kühlen Kopf bewahren und fragen: Was verbindet uns? Es ist unsere Aufgabe, gemeinsam für Frieden und Versöhnung einzutreten.
Sie gehen bei der Suche nach Gemeinsamkeit sehr weit und sagen, dass wir alle denselben Gott anbeten. Wie ist das gemeint?
Hein:Das zentrale verbindende Element zwischen den drei Religionen habe ich im Verständnis der Barmherzigkeit Gottes gefunden. Diese Vorstellung teilen Christen, Juden und Muslime. Aber unsere Erfahrungen Gottes sind unterschiedlich. Ein häufiger Vorwurf der Muslime lautet, wir Christen würden drei Götter anbeten. Da erwarte ich, dass sie sich mit dem Verständnis der Dreieinigkeit auseinandersetzen. Uns begegnet Gott in Jesus Christus. Solche Unterschiede bedeuten aber nicht, dass jede Religion im Himmel ihren eigenen Gott hat.
Was folgt daraus für das Verhältnis der Religionen?
Hein: Es führt zu Toleranz, ohne die Berechtigung der einzelnen Religionen zu relativieren. Ich bin mit Begeisterung Christ und werde es auch bleiben. Aber durch den gemeinsamen Glauben an einen barmherzigen Gott können wir uns trotz aller Unterschiedlichkeiten näherkommen.
Selbst Protestanten und Katholiken haben Schwierigkeiten, gemeinsam Abendmahl zu feiern. Wie sollen interreligiöse Gottesdienste gelingen?
Hein: Man wird nur Schritt für Schritt aufeinander zugehen können. Das beginnt bei gegenseitigen Einladungen in den Gottesdienst oder zum Freitagsgebet, nach dessen Ende der Gast seinerseits ein Gebet spricht – man könnte das spirituelle Gastfreundschaft nennen. Der zweite Schritt ist eine multireligiöse Feier, die von allen Teilnehmern zusammen gestaltet wird – wie bei dem gemeinsame Gottesdienst zum 25-jährigen Gedenken des Grubenunglücks von Stolzenbach geschehen. Und als drittes stellt sich die Frage nach dem gemeinsamen Gebet. Dabei gilt es, Formen des Gebets zu finden, in denen sich alle drei Religionen wiederfinden, ohne dass sie ihre eigenen religiösen Anliegen aufgeben müssen.
Mit diesen Vorschlägen sind sie sicher nicht nur auf Zustimmung gestoßen.
Hein: Das habe ich auch nicht erwartet. Die Synode ist ja kein Parlament von Claqueuren, das allem applaudiert, was der Bischof sagt. Meine Ausführungen sind zum Teil mit Zurückhaltung, aber auch mit großer Zustimmung zur Kenntnis genommen worden. Mir geht es darum, dass wir intensiver über diese Fragen nachdenken.
Was muss konkret passieren, damit der Weg der Annäherung, den sie aufzeigen, auch beschritten wird?
Hein:Notwendig ist dazu Aufklärung über den eigenen Glauben und über den der anderen. Denn aus Unkenntnis über uns selbst resultiert die Angst in der Begegnung mit dem Fremden. Dieses Bildungsprogramm muss auch in den Schulen stattfinden. Der beste Ort, um sich kennenzulernen und zu begegnen, ist die Schule. Deshalb wäre es fatal, wenn aus Sorge vor religiösen Differenzen, kein Religionsunterricht stattfindet. Gerade in diesen Zeiten gehört Religion in die Schule hinein.
Zur Person
Prof. Dr. Martin Hein (62) ist seit 16 Jahren Bischof der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck. Hein stammt aus Wuppertal und ist in Hanau aufgewachsen. Er studierte Jura und Theologie in Frankfurt, Erlangen und Marburg. Seine Habilitation legte er an der Universität Kassel ab. Nach Vikariat und erster Pfarrstelle war Hein zunächst Studienleiter beim Evangelischen Predigerseminar in Hofgeismar. Ab 1995 war er Dekan des damaligen Kirchenkreises Kassel-Mitte, bevor er 2000 zum Bischofgewählt wurde. Seit 2014 ist Martin Hein Mitglied des Deutschen Ethikrats. Er ist verheiratet und Vater von zwei erwachsenen Töchtern. Die Familie lebt in Kassel.